Rüdiger Bertram – Antje Herden – Kai Lüftner

Rüdiger Bertram – Antje Herden – Kai Lüftner

Donnerstag, 28. Mai 2015

Hackfleisch – Kai Lüftner

Der Typ am Fensterplatz war mir auf den ersten Blick suspekt.
Um nicht zu sagen zuwider.
Er schwitzte deutlich unter seinem Thomas-Gottschalk-Gedenk-Pfiffi in kackbraun und eine wabbelige Fettschürze hing unappetitlich über den Rand seines speckigen Gürtels. Auch der ganze Rest an dem Kerl wirkte wie dritte Ware Auslaufmodell im Ekelmodus.
Ich will mich an dieser Stelle nicht über seinen „Kleidungsstil“ mokieren, denn das würde zu weit führen und wäre gleichzeitig zu fies.
Wie um mich zu ärgern, funktionierte die Klima-Anlage im ICE – und ließ sich nicht ausschalten – so bekam ich das von ihm ausgehende Bahnhofsklo-Odeuvre direkt in den Kolben geblasen. Hurra, ich hatte also sowohl optisch, als auch olfaktorisch ins Schwarze getroffen mit meinem Sitznachbarn – Jackpot, Herr Lüftner – und ich spürte diesen mir altvertrauten und undefinierbaren Kumpel Hass durch mein Gedärm pumpen. Dieses leicht süßliche Gefühl von ein bis drei Jahren Knast wegen Unverhältnismäßigkeit.
Ich wusste bereits beim Platz nehmen, dass es ein Fehler war, nicht ein ganzes Abteil für mich allein gebucht zu haben, um nur im äußersten Notfall reizenden Austauschstudentinnen Asyl zu gewähren.
Okay, sechs Stunden Bahnfahrt würde ich schon irgendwie überstehen. Mein Spotify-Account war frisch freigeschaltet, der Handy-Akku voll und ich hatte den neuen Anthony Horrowitz im Rucksack. Alles würde gut werden – wenn da nicht diese Hackfresse ohne amtlichen Homo-Sapiens-Bewilligungsbescheid neben mir sitzen und vor sich hin transpirieren würde. Und zwar so, als ob er Gardena-Gartensprenger-Werbung würde machen wollen.
Zu allem Überfluss umklammerte er eine schwere Nike-Sporttasche auf seinem Schoß wie einen Goldschatz und benutzte unerlaubterweise die mittlere Armlehne.
Ich versuchte es so freundlich wie möglich und starrte ihn mit diesem Blick an, den mir mein Kampfsportlehrer für den Fall beigebracht hatte, dass alles andere keinen Sinn mehr machte. Ich hielt den Zeitpunkt für gekommen.
Er war noch weniger Alpha als erwartet und kuschte bereits, als ich das erste Mal tieffrequentig grunzte. Ehrlich gesagt, bekam ich Angst, dass er sich einpisste, so wie er mich mit seinen Schweineaugen anzuwinseln schien. Ein dicker Schwitzetropfen passierte die grobporigen Stirnwülste und ließ ihn blinzeln.
Widerlich, dieser Anblick.
Oh Gott, wie gern ich an diesem Kerl ein paar nicht dezente Handkantenschläge, Kipphandhebel oder Nervendruckpunkte ausprobiert hätte. Einfach nur so. Aber ich hatte kein Desinfektionsspray dabei und war auch irgendwie zu alt geworden, um mich immer und bedingungslos auf mein erstes (niederstes) Bedürfnis einzulassen. Auch wenn es sinnloser und gerade deshalb umso befriedigenderer Hass war. Außerdem befand ich mich auf dem Weg zu einer größeren Schul-Lesung. Keine Ahnung, ob das meinem Marktwert zuträglich wäre. Bei meinem Glück saß irgendeine überambitionierte Journaille im Abteil und wartete nur auf den Schnappschuss seines Lebens.

Ich versuchte mich in der Kunst des Ignorierens, starrte aus dem Fenster und entspannte bestmöglich zu Cannibal Corpse und Obituary. Es tat gut, die Sechzehntel der Doublebass bis in die Arschritze zu spüren. Entspannung pur.
Leider hielt das nicht lange vor. Erstens saugte Spotify dem Apfelfon derartig Saft, dass nach einer halben Stunde Pumpe war und zweitens begann der Typ neben mir konsequent großflächiger auszulaufen und gleichzeitig tickte er immer unignorierbarer und nervöser.
Das Wackeln seines Knies war absolut nicht kompatibel mit den Cannibal Corpse in meinem Ohr. Und mit Obituary erst recht nicht.

Ich entstöpselte mich also widerwillig und suchte Blickkontakt. Er warf sich beinahe auf den Rücken, als er sich fixiert fühlte. „Du oder die Tasche!“, sagte ich halblaut, um die zwei Minderjährigen hinter uns nicht allzu sehr zu brüskieren. Hey, ich bin gelernter Pädagoge mit Lehrauftrag. Ein bisschen zumindest.

Er nickte und schüttelte gleichzeitig den Kopf, stand auf und sagte: „Okay, Tasche!“ Dann wuchtete er das Monster auf den Sitz. „Und du?“ fragte ich.
„Schließ mich bis Mannheim im Klo ein, okay?“
Es war fast zu einfach, um Spaß zu machen.
„Okay!“
„Würden Sie dann bitte so lange ein Auge auf meine Tasche haben?“
Das Ganze war an eine Bedingung geknüpft? „Gib mir deine Sitzplatzreservierung!“ sagte ich und atmete in meine Körpermitte.
Er zögerte keine Sekunde, reichte sie mir und streichelte die Tasche. Dann verdrückte er sich, schwitzend und wabbelig Richtung Zug-Toilette.

Ich muss zum Ende kommen und den Bogen zum Thema kriegen, deshalb nun die Offenbarung. Kurz vor Hannover habe ich den Reissverschluss der Tasche geöffnet, nur ein paar Zentimeter.
Ob Ihr es glaubt oder nicht: Das Teil war voll Hackfleisch. Wenn ich schätzen müsste, ca. 30 - 35 Kilo. Feinstes Mischhack in die Solinger Tageszeitung gewickelt.
Ich wollte nicht wissen, warum. Ich wollte nicht wissen, von wem. Ich genoss einfach den angenehmsten Sitznachbarn aller Zeiten und legte schützend meine Hand aufs Nike-Logo.

Diese Geschichte hat auch noch ein Ende.
Das hier ist es nicht und trotzdem ist nun Schluss.

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